Die Zeit, in welcher die drei letzten Propheten des Alten Testaments,
Haggai, Sacharja und Maleachi, gewirkt haben, wird ausdrücklich
als "der Tag kleiner Dinge" bezeichnet (vgl. Hag. 2,3;
Sach. 4,10). Mit der Erlösung Israels aus der babylonischen Gefangenschaft
war noch keineswegs die Zeit der messianischen Reichsherrlichkeit
angebrochen, sondern eine gewisse Wiederherstellung
des theokratischen Volkes in Drangsal der Zeiten hatte begonnen
(vgl. Dan. 9,25). Israel musste noch einen langen, dornenreichen
Leidensweg gehen, siebzig Jahrwochen lang, etwa ein halbes Jahrtausend,
bis zum Anbruch des wahren Heils, dem ersten Kommen
Christi (vgl. Dan. 9,24). Für diese dunkle Epoche der Heilsgeschichte
Israels sollte das prophetische Wort als wohltuende Leuchte dienen,
um dem schwachen, oft mutlosen Volk den Pfad zu erhellen.
- So hat Daniel eine klare, prophetische Übersicht gegeben über
die Entwicklung der Weltreiche bis zum Sturz des Antichristentums
mit dem schließlichen Triumph des Gottesreiches
durch den Menschensohn.
- So hat Haggai es verstanden, den Glaubensblick des zagenden
Volkes von dem Elend des Zeitlichen, Vergänglichen
wegzulenken und auf das Unsichtbare, Unvergängliche, die
künftige größere Herrlichkeit des Hauses Gottes.
- So war es die Mission Sacharjas, durch seine Nachtgesichte
auf das Ziel der Heilsgedanken Gottes hinzulenken, auf
die Umkehrung aller Verhältnisse, durch Leiden zur Herrlichkeit.
Jetzt triumphieren die Weltreiche, dann aber wird das
jetzt leidende Gottesreich nach dem Gericht seine alles beherrschende
Macht in der ganzen Welt ausüben.
Denselben Weg wie das Volk Gottes, durch Niedrigkeit zur Erhöhung,
musste auch der zukünftige Messiaskönig gehen. Das Kreuz
Christi wirft immer klarer seine Schatten voraus, und das prophetische
Wort konzentriert sich immer bestimmter um diesen Kernpunkt
der Heilsgeschichte. Gerade Sacharja ist es, der das Messiasbild
von dem sanftmütigen, auf einem Esel reitenden Friedenskönig
bringt.
Der Charakter Sacharjas war seiner besonderen Mission angepasst,
er war von seinem Zeitgenossen Haggai durchaus verschieden.
Jener war ein Mann erstaunlicher Tatkraft trotz seines hohen
Alters, erfüllt mit einem heiligen Zorn über die Lauheit des Volkes
im Werk Jehovas.
Sacharja dagegen, wohl in der Vollkraft seines Mannesalters
stehend, war mehr ein stiller, tief nachsinnender Seher göttlicher
Gesichte. Sein Charakter prägte sich auch seinem prophetischen
Buch auf. Es ist wohl wegen der Dunkelheit seiner bildhaften Sprache
das dunkelste Buch des Alten Testaments und hat die große innere
Verwandtschaft mit der Offenbarung des Johannes, der Apokalypse
des Neuen Testaments. Wunderbar tief und großartig universal
sind die symbolischen Darstellungen, gewaltig die einzigartig
dramatische Schilderung vom Kampf des Gottesreiches mit den
Weltreichen, bis alles Jehova geheiligt sein und der Sieg der Gnade
in dem Völkerlaubhüttenfest gefeiert wird. Sacharja geht in seiner
Eschatologie viel weiter als Daniel. Während Daniel nur die Entwicklung
der Weltreiche bis zum Antichristentum zeigt und kurz
abbricht mit dem Gericht über die Weltreiche und dem Sieg des
Gottesreiches, gibt Sacharja uns eine ausführliche Darstellung der
letzten Kämpfe und Krisen bis zur Wiederherstellung aller Dinge
in der ganzen Welt.
Das Buch Sacharjas zerfällt in zwei Hauptteile:
1. Prophetie vom messianischen Reich (Kapitel 1–8) und
2. Prophetie vom messianischen König (Kapitel 9–14).
Noch einmal muss die Weissagung zurückkehren zum Geheimnis
des Kreuzes und auf die Tatsache hinweisen, die für das zukünftige
Heil entscheidend ist. Nicht auf dem geraden Wege der allmählichen
Besserung und Hebung des sittlichen Zustandes kann
das Heil herbeigeführt werden, auch nicht durch eine freiwillige
Bekehrung des Volkes wird es tatsächlich erreicht, sondern ausschließlich
durch eine souveräne Gnadenschöpfung Gottes zustande
gebracht, nachdem ein vernichtendes Zorngericht den alten Menschen
gänzlich dem Tod überliefert hat.
Auch der Tod hat an und für sich keine erlösende Wirkung,
sondern ist der Sünde Lohn (vgl. Röm. 6,23). Erst der Tod des Sohnes
Gottes, der sich solidarisch gemacht mit der ganzen sündigen
Menschheit, kann Gericht und Heil zu gleicher Zeit sein. Dieses
Kreuzesgeheimnis konnte im Alten Testament nur angedeutet werden.
Erst durch das erste Kommen Christi wurde es den Glaubenden
ganz enthüllt (vgl. Lk. 24,25ff.45ff.).
"»Schwert, wache auf gegen meinen Hirten, gegen den
Mann, der mein Genosse ist!«, spricht Jehova der
Heerscharen. Schlage den Hirten, so wird die Herde
sich zerstreuen. Und ich werde meine Hand den Kleinen
zuwenden." (13,7)
Christus, der gute Hirte, wird durch Gottes Fügung vom
Schwert des Gerichts getroffen. Hier ist nicht mehr die Rede von
Israels Sünde gegen den guten Hirten (vgl. Sach. 11,12ff.), sondern
vom Gericht Gottes, das nach dem göttlichen Erlösungsratschluss
Christus treffen sollte. Jehova nennt ihn "meinen Hirten,
den Mann, der mein Genosse ist". Das kann von keinem anderen
gesagt werden als nur von Christus, dem Sohn Gottes. Er allein
ist der gute Hirte, der auch in seiner Menschheit Gott am nächsten
steht, ja, der ihm gleich ist. Der hebräische Ausdruck für "Mann"
bezeichnet hier den starken, mutigen Heldenmann. Christus stand
in dieser dreifachen Beziehung für uns im Gericht Gottes: als der
Hirte, als der Heldenmann und als der Genosse Jehovas.
Die nächste, von Gott beabsichtigte Folge des Gerichts über den
guten Hirten ist die Zerstreuung der Herde. Der gute Hirte muss
nicht nur stellvertretend sein Leben lassen für seine Schafe (vgl.
Joh. 10,12), sondern seine Schafe sollen ihm auch nachfolgen auf
dem Sterbensweg und Anteil haben an seinem Tod. Jesus sah die
Erfüllung dieser Weissagung anbrechen in seiner letzten Leidensnacht
(vgl. Mt. 26,31). Die Herde ist Israel und nicht etwa die Gemeinde
Jesu Christi. Israel, als Herde Jehovas, muss nach dem Gericht
über den guten Hirten, nach der Kreuzigung Christi, erst den
Weg der Zerstreuung gehen, damit es gebeugt werde, um hernach
als elender Überrest gerettet zu werden.
Jehova wird seine Hand den Kleinen zuwenden. Es gibt für Gott
keinen anderen Weg des Heils. Erst muss jede menschliche Größe
hinweggetan sein. Hier liegt das Geheimnis für das Verständnis der
Gerichtswege Gottes mit Israel und mit der ganzen Welt.
"Und es wird geschehen im ganzen Lande, spricht Jehova,
dass zwei Drittel darin weggerafft werden, aber
nur der dritte Teil darin übrig bleibt." (13,8)
Ob hiermit die ganze Gerichtszeit über Israel von der Zerstörung
Jerusalems (70 n. Chr.) an gemeint ist, das Gericht in der Völkerwüste
(vgl. Hes. 20,34–38), oder die letzte große Trübsal, lässt
sich schwer entscheiden. Jedenfalls ist Israel diese ganzen Jahrhunderte
hindurch schon im Gericht, aber das schlimmste Gericht
steht ihm noch bevor. Israel als Nation wird im Gericht nicht völlig
vertilgt, wie andere Völker als Nationen, sondern auf einen
kleinen Rest, auf ein Drittel dezimiert. Zwei Drittel des Messiasvolkes
werden hinweggerafft. Dieses Zahlenverhältnis muss symbolischen
Wert haben. Die falsche Dreiheit oder Vollkommenheit wird
zerschlagen, und nur ein Drittel kehrt zur Einheit zurück.
"Aber auch das letzte Drittel bringe ich ins Feuer und
will sie läutern, wie man Silber läutert, und will sie
prüfen, wie man Gold prüft. Die werden meinen Namen
anrufen, und ich werde sie erhören und werde
sagen: »Das ist mein Volk!«, und sie werden sagen:
»Jehova, mein Gott!«" (13,9)
Auch der Überrest wird nur durch das Feuergericht zubereitet,
umgeschmolzen und geläutert wie Silber und Gold. Dieser Umschmelzungsprozess
hat den Erfolg, dass das reine Silber und Gold
zutage kommt. Silber ist Symbol der Erlösung und Gold Symbol der
Heiligkeit. Israel wird ein erlöstes, heiliges Gottesvolk werden, das
den Namen Jehova anruft. Das neue Verhältnis wird gekennzeichnet
durch: "Das ist mein Volk!" und "Jehova, mein Gott!" Dieses
letzte Läuterungsgericht wird der wiederkommende Christus selber
vollziehen.
"Fürwahr, es kommt ein Tag für Jehova, da wird verteilt
deine Beute in deiner Mitte." (14,1)
Das letzte Gericht über Israel wird als ein Beuteverteilen dargestellt.
Was damit gemeint ist, wird in den folgenden Versen näher
ausgeführt. Alles, was Jerusalem in eigener Kraft als Beute bis dahin
errungen haben wird, soll wieder den Nationen zum Raube
werden.
Am Ende dieses Zeitalters wird eine abermalige Zerstörung Jerusalems
stattfinden durch die gottfeindlichen Völkerheere. Die Zerstörung
Jerusalems durch Titus im Jahr 70 n. Chr. ist als Typus derselben
anzusehen.
"Und zwar werde ich alle Nationen zum Streit gegen
Jerusalem versammeln, und die Stadt wird eingenommen,
die Häuser werden geplündert und die
Frauen geschändet werden. Die Hälfte der Stadt wird
in die Gefangenschaft ziehen, der Überrest der Bevölkerung
aber wird nicht aus der Stadt ausgerottet."
(14,2)
Nach Sach. 12,6 soll Jerusalem auf seiner Grundlage bestehen
bleiben.Wohl lässt Jehova es zu, dass Jerusalem durch den falschen
Propheten in die äußerste Bedrängnis hineinkommt, aber es soll
nicht ganz zerstört werden (vgl. Kapitel 13,8). Es soll von Jerusalem
die Hälfte der Einwohnerschaft in die Gefangenschaft ziehen.
Dieselben Gräuelszenen wie bei früheren Eroberungen wiederholen
sich. Die Häuser werden geplündert und die Frauen geschändet.
In dem antigöttlichen Heer werden alle Nationen vertreten
sein, so dass hier der Hass der ganzen Völkerwelt gegen Israel und
Gott zum Ausdruck kommt.
Dann, im Augenblick der höchsten Not, kommt der Messias als
Retter Israels (vgl. Jes. 66; Mi. 4).
"Aber Jehova wird hervortreten und wider jene Nationen
streiten, wie am Tage seines Krieges, am Tage des
Kampfes." (14,3)
Hier ist wieder eine Stelle im Buch Sacharjas, wo Jehova unvermerkt
mit der Person des Messias wechselt. Jehova wird hervortreten
aus seiner Unsichtbarkeit und erscheinen in der Person
des Messias. Jetzt bricht der Tag für Jehova an und der Tag der Nationen
geht zu Ende mit einem Krieg Jehovas wider die Nationen. Es
ist sozusagen ein persönlicher Zweikampf Jehovas mit den Nationen.
In diesem Entscheidungskampf handelt es sich um die Ehre
Jehovas.
"Seine Füße werden stehen an jenem Tage auf dem Ölberg,
welcher Jerusalem vor Augen liegt gegen Osten.
Und der Ölberg wird sich von seiner Mitte aus spalten
nach Osten undWesten zu einem überaus großen
Tal, so dass die eine Hälfte des Berges nach Norden,
die andere nach Süden zurückweicht." (14,4)
Der wiederkommende Christus wird mit anderen Waffen
kämpfen als die Menschen. Gewaltige Naturkatastrophen werden
seine Erscheinung begleiten, wie immer. Der Ölberg liegt von Jerusalem
aus gesehen im Osten, wo die Sonne aufgeht. Von dort wird
auch Christus wieder erscheinen, an derselben Stelle, von wo er
gen Himmel aufgefahren ist (vgl. Apg. 1,11–12). Da wird die persönliche,
geschichtliche Beziehung mit Israel wieder angeknüpft.
Infolge eines Erdbebens wird der Ölberg in der Mitte entzwei gespalten,
so dass von Osten nach Westen ein sehr großes Tal entsteht.
"Und ihr werdet fliehen in das Tal meiner Berge, denn
das Tal zwischen den Bergen wird reichen bis an den
Abhang der Stadt (bis Azel), und zwar werdet ihr fliehen,
wie ihr zur Zeit Usias, des Königs von Juda, vor
dem Erdbeben floht. Aber Jehova, mein Gott, wird erscheinen.
Alle Heiligen mit dir." (14,5)
In dem auf so erstaunliche Weise entstandenen Tal der Berge
wird die Rettung des Überrestes sein, eine von Gottes Allmacht
wunderbar herrlich zubereitete Zufluchtsstätte für sein Volk in der
höchsten Not. Der historische Vergleich mit dem Erdbeben zur Zeit
Usias (vgl. Am. 1,1) ist nicht näher bekannt. Dieses Ereignis musste
aber eine große Ähnlichkeit mit dem zukünftigen haben und noch
in der Erinnerung der Leute lebendig sein. Damit wird die Erscheinung
Jehovas oder die Wiederkunft Christi eingeführt.
Der Prophet wird hier ganz persönlich und begrüßt in heiliger
Begeisterung den kommenden Messias als "Jehova, mein Gott"
und "alle Heiligen mit dir". Wenn Jehova in der Person Jesu
Christi erscheinen und sich der staunenden Menschheit offenbaren
wird, dann werden alle Heiligen ihn begleiten (vgl. Jud. 14). Nicht
nur vor den Augen Israels wird Jehova sich so offenbaren, sondern
vor aller Welt, die in dem gottfeindlichen Völkerheer vor Jerusalem
vertreten sein wird. Christus kommt für alle sichtbar wieder
als Richter und Retter. Wer die ihn begleitenden Heiligen sind, ist
bei Sacharja noch ein Geheimnis; denn alles, was den Leib Christi,
die Gemeinde betrifft, war damals noch nicht geoffenbart (vgl.
Eph. 3,5).
"An jenem Tage wird kein Licht sein. Die Glänzenden
werden gerinnen. Und jener Tag wird ein einziger
sein – er ist Jehova bekannt! – nicht Tag, nicht
Nacht. Und es wird geschehen, um den Abend wird
es licht sein." (14,6–7)
Jener große Tag Jehovas wird sich durch besondere, einzigartige
Veränderungen in der Natur auszeichnen. Weil es sich zunächst um
Gericht handelt, zieht sich auch in der Natur das Licht zurück und
grauenvolle Dämmerung entsteht (vgl. Mt. 27,45).
Dunkel ist der Sinn der Worte "Die Glänzenden werden gerinnen".
Wir brauchen dabei nicht an die Gestirne zu denken, die ihren
Schein verlieren, sondern können dasWort deuten auf das Hinschwinden
des Glanzes von allem Irdischen, was die Menschen
so hoch geschätzt haben. Es wird ein ganz eigenartiger, einziger
Tag sein. Nur Jehova ist er bekannt (vgl. Mt. 24,42; 25,13; Apg. 1,7;
Mk. 13,32). So endet diese Weltzeit am Tage Jehovas mit dem Gericht,
wozu die ganze Natur sich in schauerliche Dämmerung hüllt,
bis am Abend das neue Licht des Heils durchbricht.
"Um den Abend wird es licht." Das Licht ist ein Bild der dann
anbrechenden messianischen Reichsherrlichkeit. Aber es ist nicht
nur ein Bild, sondern auch Wirklichkeit, an der die veränderte Natur
Anteil haben wird. Mit der messianischen Königsherrschaft auf
Erden wird auch eine höhere Naturordnung eingeführt und eine
größere Lichtfülle sich auf die Schöpfung ergießen. Am Gerichtstag,
der in trübe Dämmerung gehüllt ist, bricht am Abend, wenn
der Eintritt völliger Dunkelheit einzutreten pflegt, plötzlich helles
Licht hervor. Dadurch wird das neue Heil und die neue Naturordnung
angekündigt. Etwas noch nie Dagewesenes, etwas ganz Neues,
eine neue Haushaltung Gottes, wird beginnen. Der Charakter
dieses Neuen wird mit dem einen Wort "Licht" gekennzeichnet.