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Schriftenmission-Langenberg.de


Der Galaterbrief

Ansicht Cover Band1 Heinrich Langenberg beschreibt in diesem Werk die bedingungslose Gnade und das Problem der göttlichen Gerechtigkeit. Das Ziel ist die Wiederherstellung der brüderlichen Gemeinschaft.

Dem frommen, denkenden Christen von heute fällt es schwer, sich mit seinem rein menschlichen, natürlichen Gerechtigkeitsgefühl in die Problematik eines gesetzesfreien Evangeliums der bedingungslosen Gnade hineinzudenken. Der Apostel Paulus war berufen, gerade dieses als revolutionär zu bezeichnende als sein Evangelium zu verkündigen, das er mit äußerster Konsequenz gegen den Judaismus verteidigte.

Brosch., 132 Seiten, 9,40 €
ISBN-13: 978-3-00-038236-9
Bestellnummer: 1100

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Ausschnitte zum Probelesen


Inhaltsverzeichnis


1 Vorwort 7
2 Einleitung zum Galaterbrief (1,1-24) 11
3 Die Übereinstimmung des Evangeliums, welches Paulus verkündigte, mit dem Evangelium der Apostel und der Muttergemeinde in Jerusalem (2,1–10) 40
4 Die Kontroverse zwischen Paulus und Petrus in Antiochia (2,11–14) 47
5 Die rechten Konsequenzen der Rechtfertigung aus Glauben Christi ohne Gesetzeswerke (2,15–21) 51
6 Der heilsgeschichtliche Nachweis für die Wahrheit des Evangeliums (Kapitel 3 und 4) 56
6.1 Die Gerechtmachung der Heiden nicht aus Gesetzeswerken, sondern aus Glauben Abrahams (3,1–14) 57
6.2 Das Grundprinzip des Alten Testaments ist nicht Gesetz, sondern Verheißung (3,15–18) 68
6.3 Die heilsgeschichtliche Bedeutung des Gesetzes (3,19–4,7) 71
6.4 Wiederherstellung der brüderlichen Gemeinschaft zwischen den Galatern und dem Apostel (4,8–20) 82
7 Ermahnung zum Feststehen in der christlichen Freiheit (5,1–12) 95
8 Die wahre Freiheit als Beruf der Gemeinde (5,13–6,10) 103
9 Die einheitliche Ausrichtung im Geist zu dienender Liebe (5,25–6,10) 110
Bibelstellenverzeichnis 119

Vorwort

Es ist nicht ratsam, das Studium der paulinischen Briefe mit dem Galaterbrief zu beginnen, nämlich mit dem Brief, der als revolutionär und tief aufwühlend gerade dem frommen Menschen, dessen Denken und Empfinden durch die Schulung des Gesetzes und die jüdische pharisäische Frömmigkeit geprägt war, erscheinen musste. Auch dem frommen, denkenden Christen von heute muss es äußerst anstößig sein, wenn er sich mit seinem rein menschlichen, natürlichen Gerechtigkeitsgefühl in konsequenter Logik hineindenkt in die unfassbare Problematik eines gesetzesfreien Evangeliums, d. h. einer Heilsbotschaft der bedingungslosen Gnade. Wir haben heute den Begriff „Gnade“ so sehr verflacht und seines heiligen Charakters beraubt, dass wir das eigentliche Problem der undurchbrechbaren göttlichen Gerechtigkeit überhaupt nicht mehr verstehen und bei unserer Denkträgheit das tiefere Empfinden verloren haben für das peinvolle Paradox: Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit, wie sie im mosaischen Gesetz vom Sinai geoffenbart worden ist, einerseits und die Evangeliumsverkündigung Jesu und seiner Apostel andererseits.

Ein oberflächliches dogmatisches, durch konfessionelle Tradition beherrschtes Denken enthebt uns nur zu leicht des verzweifelten Ringens um Lösung der brennenden Fragen und gewährt uns eine vorgetäuschte Beruhigung. Dem Kernproblem gerade des Galaterbriefes kommen wir so überhaupt nicht auf die Spur. Worin besteht dieses denn? Um dieses zu verstehen, müssen wir, angeleitet durch die Heilige Schrift selber, durch das lebendige, bleibende Wort Gottes weiter zurückgreifen, um das heilsgeschichtliche Werden des Evangeliums der bedingungslosen Gnade zu erkennen, d. h. innerlich erlebnismäßig zu erfassen. Machen wir uns zu diesem Zweck einmal klar, wie Jesus in seiner Königreichsbotschaft von den ernsten Frommen seiner Zeit als rücksichtsloser Revolutionär empfunden werden musste.

Nehmen wir dazu zwei Beispiele von denjenigen Vertretern der jüdischen gesetzlichen Frömmigkeit, die nicht von vornherein als parteiisch und voreingenommen erscheinen: die Unterredung Jesu mit dem reichen Jüngling und der anschließenden Erörterung für die Jünger (Mt. 19,16–30) und das Gleichnis Jesu von den Arbeitern im Weinberg (Mt. 20,1–16). Überschauen wir nur, ohne auf eine eingehende Exegese uns einzulassen, die Hauptzüge des Gesamtbildes und fangen wir beim Gleichnis an, in dem Jesus selbst die ganze Problematik des gesetzlichen Gerechtigkeitsdenkens aufrollt. Ein Weinbergbesitzer geht aus, um Arbeiter für seinen Weinberg zu dingen. Frühmorgens stellt er die erste Gruppe an die Arbeit, nachdem er mit den Arbeitern einen streng gerechten Arbeitsvertrag abgeschlossen hat, als üblichen Tagelohn ein Denar. Dies war der Grundsatz sozialer Gerechtigkeit, für die entsprechende Arbeitsleistung der entsprechende Lohn. Um die dritte Stunde findet er andere Arbeiter auf dem Markt müßig herumstehen und sendet sie ebenfalls in seinen Weinberg mit dem Versprechen: Was irgend recht ist, werde ich euch geben. Und sie gehen hin. Und abermals, um die sechste und neunte Stunde, tut er desgleichen.

Sicher wächst die Spannung in der Erwartung der Lohnauszahlung. Ja selbst noch um die elfte Stunde, also eine Stunde vor Schluss der Tagesarbeit, stellt er noch Arbeiter ein, die den Tag über müßig am Markt gestanden haben, weil sonst niemand sie gedungen hat. Auch diese arbeiten noch die eine Stunde, ohne zu wissen, was sie als Lohn erhalten werden. „Was irgend recht ist, werdet ihr empfangen.“ Es geht also um das Rechtseiende oder Gerechte (dikaion, Verse 4 und 7), um das Recht des Hausherrn (oikodespotäs, Vers 1), wie er als der zur Arbeit Berufende genannt wird, und des Herrn des Weinbergs, der den Lohn bestimmt (Vers 8).

Er beginnt bei denen, die nur eine Stunde gearbeitet haben, und zahlt ihnen den Lohn für einen vollen Arbeitstag aus. In gleicher Weise handelt er auch mit den anderen. Wie er nun an die letzte Gruppe kommt, die die Last und Hitze des ganzen Tages getragen hat, und die nun auch den einen Denar gemäß Vertrag empfangen, bricht die Empörung aus über die als schreiende Ungerechtigkeit empfundene Handlungsweise des Arbeitgebers. Wir können das nur zu gut nachfühlen. Solche Grundsätze sind doch einfach undurchführbar in unserer sozialen Gesellschaftsordnung, wo es heißt: Ein entsprechender Lohn für eine entsprechende Arbeitsleistung nach gegenseitiger Übereinkunft. Dem gesetzlichen Gerechtigkeitsempfinden der Weinbergarbeiter steht gegenüber das Gerechtigkeitshandeln des Weinbergbesitzers, das nicht abweicht von dem dikaion (was gerecht ist), aber eine neue Note erhält durch die Erklärung: „Ist es mir nicht erlaubt, mit dem Meinigen zu tun, was ich will? Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin? Also werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein“ (Verse 15–16).

Jesus spricht hier in dem Gleichnis als der „Ich-bin“, der Seiende, Jehova. Als solcher ist er souverän als Herr der Heilsgeschichte. Es bleibt die Frage, wie ist diese Stufe der Gerechtigkeitsoffenbarung zu vereinbaren mit derjenigen im mosaischen Gesetz? Besteht denn keine Kontinuität, kein entwicklungsmäßiger Zusammenhang zwischen der Gesetzes– und der Evangeliumshaushaltung? Wohl haben wir in der Apostelgeschichte die Darstellung des Offenbarungsfortschrittes für die aufeinander folgenden Haushaltungen, aber haben wir dieselbe wirklich verstanden, oder begnügen wir uns mit der Kenntnisnahme von geschichtlichen Tatsachen?

Doch werfen wir einen Blick auf das zweite Beispiel, das uns in Mt. 19,16–30 berichtet wird im inneren Zusammenhang mit dem Gleichnis. Die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit und die Einstellung Jesu zu der im Gesetz geoffenbarten Stufe hatte alle Schichten der jüdischen Bevölkerung aufgerüttelt.

Der reiche Jüngling gehörte zur Gruppe der gebildeten Gesetzestreuen, die sich gewissenhaft bemühten, alle Forderungen des Gesetzes peinlichst zu erfüllen. Wenn er dem Herrn Jesus, den er betont als Lehrer (in einigen Handschriften heißt es: „guter Lehrer“) anredet, antworten kann: „Alles dieses habe ich beachtet, was fehlt mir noch?“, so ist er dabei durchaus ehrlich. Dennoch hatte er das Wesen des Gesetzes nicht verstanden, und dieses Eine fehlte ihm noch (vgl. Mk. 10,21; Lk. 18,22). Dieses Eine ist so schwer zu begreifen und wird nur dem praktischen Gehorsam enthüllt.

Deshalb verweist Jesus den Enttäuschten auf den Weg der aufrichtigen, konsequenten Praxis. Rein theoretisch lässt sich die Gerechtigkeitsfrage überhaupt nicht lösen. Das beweisen schon die vielen sich widersprechenden Lösungsversuche des sozialen Gerechtigkeitsproblems. Tue das, und dann komme und folge mir nach. Sei ganz konsequent, und dann komme als einer, der in seiner eigenen Konsequenz bankrott geworden ist, und folge Jesus nach (deuro akoluthei moi = vorwärts, gehe mit mir). Mit Jesus gehen ist also die Linie des Ideenfortschritts.

Aber ist dieser Fortschritt nicht ein unfassbarer Bruch mit der im Gesetz verankerten Lehre von der göttlichen Gerechtigkeit? Kann Jesus als der „Ich-bin“ sich denn mit sich selbst in Widerspruch setzen? Diese Frage muss ganz gründlich erwogen werden, ehe wir uns erkühnen können, über pharisäische Gesetzesfrömmigkeit ein Urteil zu sprechen. Doch gehen wir noch einen Schritt weiter. Selbst im engeren Jüngerkreis kam die Frage nach der Gerechtigkeit, wie Jesus dieselbe auffasste und lehrte, nicht zur Ruhe. Das Menschen Unmögliche und die göttliche Möglichkeit kann nur erlebnismäßig erkannt werden (Mt. 19,26; Mk. 10,27; Lk. 18,27).

Auf dieses Erlebnis warteten die Jünger mit sich steigernder Spannung. „Siehe, wir haben alles losgelassen und gehen tatsächlich mit dir, wir tun also ehrlich und gründlich, was du dem viele Güter habenden Jüngling empfohlen hast. Was also wird uns sein?“ (Mt. 19,27.) Diese Frage beantwortet Jesus mit einem Hinweis auf die Erfüllung der bestimmten prophetischen Verheißungen für das messianische Königreich. Mt. 19,28–29: „Ihr, die ihr tatsächlich mit mir geht, werdet in der Wiedergeburt (des Volkes Israel), wenn der Sohn des Menschen auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen wird, auch selbst sitzen auf zwölf Thronen, richtend die zwölf Stämme Israels. Und jeder, der losgelassen hat Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, wird Vielfältiges empfangen und äonisches Leben erben.“ An dieses Wort Jesu schließt sich dann unmittelbar das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg an. Die endgültige Lösung des Gerechtigkeitsproblems findet also erst in der Zukunft statt. Die gegenwärtige Lösung jedoch auf dem Boden der Gemeinde ist in den paulinischen Briefen und in der Apostelgeschichte des Paulusschülers Lukas gegeben. Die Apostel, und vor allem Paulus, standen mit ihrer Heilsbotschaft direkt auf den Schultern der Propheten. Wenn auch wir hier anknüpfen, finden wir die große gerade Linie auch durch den Galaterbrief.

5 Die rechten Konsequenzen der Rechtfertigung aus Glauben Christi
ohne Gesetzeswerke (2,15–21)

„Wir, von Natur Juden und nicht aus Heiden Sünder, wissen aber, dass ein Mensch nicht gerechtfertigt wird aus Gesetzeswerken, es sei denn durch Glauben Christi Jesu, so glauben wir auch an Christus Jesus, damit wir gerechtfertigt werden aus Glauben Christi und nicht aus Gesetzeswerken; denn aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch gerechtfertigt werden.“ (2,15–16)

Paulus benutzt diesen Anlass, um die fundamentale Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben (Treue) Christi Jesu einzuprägen. In diesem Punkt berührt sich der Galaterbrief eng mit dem Römerbrief (vgl. Röm. 3,20.28; 4,5; 11,6). Hier wie dort ist das Rechtfertigende nicht in erster Linie unser Glaube an Christus Jesus, sondern der Glaube (Treue) Christi Jesu selbst (vgl. Röm. 3,22). Erst so wird der Gegensatz total: Nicht aus Gesetzeswerken oder sonst irgend etwas, was wir von uns aus tun müssen, sondern ganz und gar durch das, was Christus Jesus für uns getan hat, also durch seinen Glauben oder seine Treue im Erlösungswerk. Der einzige Grund unserer Rechtfertigung ist Christi Opfertod. Zu beachten ist auch die absteigende Reihenfolge der Titel des Herrn. Es ist der absteigende Weg zum Kreuz dadurch angedeutet.

„So glauben wir auch an Christus Jesus, damit wir gerechtfertigt werden aus Glauben Christi.“ Beides wirkt also nach dieser Darstellung miteinander wie Ursache und Folge, der Glaube Christi Jesu durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist (Röm. 3,24), und unser Glaube an Christus Jesus, wörtlich in Christus Jesus hinein.

Was Paulus im Römerbrief in den ersten Kapiteln so ausführlich nachweist, das bringt er hier im Galaterbrief auf eine ganz kurze Formel: „Wir, von Natur Juden und nicht aus den Heiden Sünder“, d. h. beide sind ihrer Natur nach Sünder. Dem Apostel kommt es im Galaterbrief darauf an, die negative Seite der Rechtfertigung zu betonen. Dreimal sagt er deshalb: nicht aus Gesetzeswerken. Das rührt von der Heuchelei her, die Paulus hat aufdecken müssen. Da wurde es deutlich, wie groß die Gefahr ist, immer wieder in rein menschliche Gesetzlichkeit zurückzufallen.

Selbstverständlich ist hier wie im Römerbrief die Rechtfertigung des Gottlosen nicht ein rein forensischer (= richterlicher) Akt der Gerechtsprechung, sondern zugleich eine wirkliche Gerechtmachung; denn den Gottlosen nur gerecht sprechen wäre gegen Gottes Wort (vgl. 2. Mo. 23,7; Spr. 17,15), wenn nicht ein Gerechtmachen damit verbunden ist. Deshalb fügt Paulus in Vers 17 hinzu: „gerechtfertigt in Christus“, d. h. in Lebensgemeinschaft mit ihm. Da ist der Mensch in Christus und Christus in ihm (Vers 20).

Wenn Paulus sagt: „Aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch gerechtfertigt werden“, so lehnt er sich mit diesem Ausdruck wohl an Ps. 143,2 an, ohne direkt zu zitieren. Er betont dabei die Naturbeschaffenheit des Menschen, das Fleisch (die physis, vgl. Gal. 2,15).

„Wenn wir aber suchend gerechtfertigt zu werden in Christus auch selber erfunden wurden als Sünder, ist demnach Christus ein Diener (diakonos) der Sünde? Möge das nicht geschehen!“ (2,17)

Der Sinn dieser dunklen Stelle dürfte sein: Wenn wir aber damals, als wir glaubten (Vers 16), suchend gerecht zu werden in Christus erfunden wurden, d. h. offenbar geworden sind als Sünder (vgl. Röm. 7,10), und zwar wir selbst, gleich den Heiden (Vers 15), folgt dann etwa daraus, dass Christus ein Diakon der Sünde sei? Als ob Christus dadurch der Sünde noch Vorschub leistet, wenn er denen, die doch den Fluch verdient haben, noch göttlichen Segen zuwendet. Was schon die Pharisäer Jesus vorgeworfen, dass er die Sünder annimmt und mit ihnen isst (Lk. 15,2; Mt. 9,11), also es scheinbar zu leicht nimmt mit der Sünde, wenn er sich so radikal hinwegsetzt über den Unterschied zwischen Heiden und Juden, das war dem gesetzestreuen Juden, auch wenn er an Christus gläubig geworden war, immer noch schwer zu fassen. Es war ihm, als ob Jesus gegen Gesetz und Sünde zu gleichgültig und dadurch im Grunde doch ein Diakon der Sünde wäre. Diakon der Sünde ist etwas anderes als Knecht oder Sklave (dulos) der Sünde.

„Denn wenn ich das, was ich niedergerissen habe, wiederum baue, stelle ich mich selbst als Übertreter dar.“ (2,18)

Gemeint ist das Gesetz in Geboten und Satzungen, welches für mich als abgebrochen gilt und welches ich durch Gemeinschaft mit den Heidenchristen als abgetan erkläre. Wenn ich also diese Schranke wieder aufrichte, erkläre ich damit, dass ich mit dem Abbrechen schweres Unrecht getan habe und demnach ein Übertreter des Gesetzes geworden bin. Das wäre ein Widerspruch mit der Glaubensstellung, die ich vorher eingenommen habe. Der Versuch, das Abgebrochene wieder zu bauen, ist auch im Widerspruch mit der rechten Heiligungsrichtung.

„Denn ich (ego) bin durch Gesetz (dem) Gesetz gestorben, auf dass ich Gott lebe. Mit Christus bin ich gekreuzigt. Es lebt aber nicht mehr ich (ego), es lebt aber in mir Christus. Was ich aber nun lebe im Fleisch, das lebe ich in Glauben, dem des Sohnes Gottes, der mich liebt und sich selber für mich dahingibt.“ (2,19–20)

Gerade wer es genau nimmt mit dem Gesetz, erfährt seine tötende Wirkung (vgl. Röm. 7,10–11.13). So wie in Röm. 7 ist es das Ich (ego), die Ichhaftigkeit, die durchs Gesetz tödlich getroffen wird (vgl. 2. Kor. 3,6). Aber nachdem so das Gesetz seine Aufgabe erfüllt hat, bin ich auch von seiner Verbindlichkeit los geworden, dem Gesetz abgestorben (vgl. Röm. 7,6). „Auf dass ich Gott lebe“, d. h. in Gottverbundenheit (vgl. Röm. 6,11).

Nur in Christi Gemeinschaft kommt es dahin, dass der Mensch durch Gesetz dem Gesetz stirbt zum göttlichen Leben (vgl. Röm. 8,3–4). Daher sagt Paulus weiter: „Mit Christus bin ich gekreuzigt!“ Das ist nicht ganz dasselbe wie mit Christus gestorben sein (Röm. 6,8; Kol. 2,20; 2. Tim. 2,11), sondern es bedeutet: mit Christus den durch sein Kreuz zum Ausdruck gebrachten Gesetzesfluch übernommen zu haben. So wie also Christus durch seinen Kreuzestod alle Ansprüche des Gesetzes erschöpfend erfüllte, dem Gesetz starb, damit er Gott lebe, so ist der Gläubige mit Christus dem Gesetz gekreuzigt.

Aber gerade dieses Kreuzesgeheimnis ist zugleich Lebensgeheimnis. Ich bin gestorben, aber ich lebe auch. „Ich lebe aber nicht mehr als ich, aber Christus lebt in mir.“ Das alte Ich, das nicht mehr lebt, ist das „Ich, von Natur ein Jude“ (vgl. Vers 15). Christus wohnt in dem Gläubigen (vgl. Röm. 8,9–10) und entfaltet in ihm sein eigenes Leben, jedoch nicht mit Vernichtung der Persönlichkeit des Gläubigen, seiner Ichheit, sondern seines alten Ichs, d. h. seiner Ichhaftigkeit. Die Persönlichkeit des Gläubigen wird völlig neu: „Was ich aber nun lebe in Fleisch, das lebe ich in (vermittels) Glauben, dem des Sohnes Gottes.“ Dieses Personleben vollzieht sich im Fleisch, d. h. noch im Bereich des schwachen Fleisches, aber nicht im Wesen des sündhaften Fleisches.

„Das lebe ich vermittels Glauben (Treue) des Sohnes Gottes.“ Hier ist nicht mein Glaube an den Sohn Gottes gemeint, sondern der Glaube oder die Treue des Sohnes Gottes, die er dadurch beweist, dass er mich liebt und sich selber für mich dahingibt. Deshalb wird Christus hier auch als der Sohn Gottes bezeichnet, weil sein Versöhnungstod der Beweis seiner Treue ist.

„Ich lehne die Gnade Gottes nicht ab. Denn wenn durch Gesetz Gerechtigkeit (kommt), so ist also Christus umsonst gestorben.“ (2,21)

Damit will Paulus sagen, dass das Suchen der Gerechtigkeit durch ein Gesetz eine Entwertung der Gnade bedeutet. Dann ist Christus umsonst, unnötigerweise gestorben. Einen verhängnisvollen Fehlschluss pharisäischer Dialektik weist Paulus also mit seiner Ausführung von Kapitel 2,15–21 entschieden ab: Dass Christus ein Diakon der Sünde war, da er die moralische Schranke zwischen Juden und Heiden beseitigt und die Juden so ohne weiteres auf dieselbe Stufe mit den Sündern aus den Heiden gestellt hat (Verse 15–17); den Fehlschluss widerlegt er dadurch, dass der Gläubige gerade im Gnadenstand die Sünde ganz ernst nimmt, dass er die wirksame Gnade Gottes ins rechte Licht stellt, nämlich das Leben vermittels Glauben des Sohnes Gottes. Der Wert der göttlichen Gnade wird wirklich aufgehoben durch den Rückfall des Gläubigen unter Gesetz. „Christus ist umsonst gestorben, wenn ich irgend Gerechtigkeit aus einem Gesetz suche.“ Das ist letzte Konsequenz der stahlharten heiligen Logik des Apostels Paulus.

Wie kommt Paulus dazu, diese fundamentalen Ausführungen in Kapitel 2,15–21 so unmittelbar an den Bericht von dem Vorfall mit Petrus in Antiochien (Kapitel 2,11–14) anzuschließen? Gehen wir bei der Beantwortung dieser entscheidenden Frage vom Thema des Briefes aus, von der Rechtfertigung des von Paulus gepredigten Evangeliums (1,11), das nicht menschlicher Art noch Herkunft ist, sondern unmittelbar von Christus enthüllte göttliche Offenbarung. Es ist im Wesentlichen die Enthüllung des Sohnes Gottes (1,16). Diese Wahrheit hat Paulus in Jerusalem vertreten (2,1–10), aber auch in Antiochien dem Petrus gegenüber behauptet, als dieser durch sein Beispiel die Heidenchristen zur Beachtung jüdischer Überlieferung und Sitte nötigte (2,11–14). Es ist also die Wahrheit des Evangeliums, die Paulus in jedem Fall gegen Verdunkelungen zu schützen sucht. Das Zeugnis der judenchristlichen Muttergemeinde war dadurch unversehrt geblieben. Darauf kann Paulus nun weiterbauen, wenn er in den nächsten Kapiteln mit den heidenchristlichen Galatern verhandelt über die judaistischen Irrlehren.

8 Die wahre Freiheit als Beruf der Gemeinde (5,13–6,10)

Wahrheit und Freiheit sind zwei Hauptbegriffe, um die sich die ganze Erörterung im Galaterbrief dreht. Wie es keine echte Freiheit gibt ohne Wahrheit (vgl. Joh. 8,32), so auch keine Wahrheit ohne Freiheit. Nachdem Paulus im ersten Hauptteil des Briefes die Wahrheit seines Evangeliums klargestellt hat (vgl. 2,5.14), spricht er im zweiten Hauptteil über die wahre Freiheit als Beruf der Gemeinde (vgl. 5,1.13).

„Denn ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder.“ (5,13)

Die Freiheit ist nicht nur ein Vorrecht der Gemeinde, sondern ihr hoher Beruf. Der Begriff „Freiheit“ ist nicht nur negativ, im Sinne von Nichtgebundensein an das Gesetz, sondern auch durchaus positiv zu fassen und hängt eng zusammen mit dem Begriff des Glaubens, der durch die Liebe wirksam ist. Durch das „denn“ knüpft Paulus wieder an Vers 1 an: „Für die Freiheit macht Christus frei. Stehet nun fest und werdet ja nicht wieder in einem Joch der Knechtschaft festgehalten.“ Denn diese Freiheit ist ja der Beruf der Gemeinde, was aus der Anrede „Brüder“ hervorgeht. Nun verstehen wir recht, warum Christus uns für die Freiheit erst wirklich frei machen muss. Es ist eben eine ganz andere Art von Freiheit, als die der gebundene Mensch zu haben wähnt (vgl. Joh. 8,32.36).

„Nur ja nicht die Freiheit zu einer Gelegenheit für das Fleisch, sondern durch die Liebe dienet einander.“ (5,13)

Die Freiheit kann so leicht missverstanden und missbraucht werden. Darum hält Paulus es für nötig, vor dem Missbrauch der Freiheit zu warnen. Das Fleisch sucht ja so gerne einen Vorwand (aphormä = Stützpunkt, Anlass, vgl. Röm. 7,8.11) und fasst die Freiheit leicht als Hemmungslosigkeit, Ungebundenheit auf. Es ist auch nur auf positivem Weg möglich, in der wahren Freiheit zu leben, und dieser positive Weg ist die Liebe. „Durch die Liebe dienet einander.“ Liebe ist nicht Genießenwollen, sondern Dienst. Für „dienen“ wählt Paulus ein Wort, das auch gebraucht wird für den Sklaven– oder Knechtsdienst unter dem Gesetz (duleuein, vgl. 4,25; 1. Kor. 9,19). Das „einander“ oder „einer dem anderen“ zeigt die Aktivität an. Nicht bedienen lassen, sondern dienen ist das Wesen echter Liebe. So kommt es zur Harmonie in der Brudergemeinschaft.

„Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt worden, in dem: Lieben sollst du deinen Nächsten wie dich selbst.“ (5,14)

Der Gesetzesknechtschaft stellt Paulus die wahre Freiheit der dienenden Liebe als Gesetzeserfüllung gegenüber. Das sagt schon das Gesetz selber, ja es gipfelt (anakephalaiusthai = aufgehauptet werden, vgl. Röm. 13,9) in dem Wort: „Lieben sollst du deinen Nächsten wie dich selbst“ (3. Mo. 19,18). „Erfüllen“ bedeutet mehr als bloß befolgen, tun. Es ist gemeint ein Ausreifen zur Fülle, zur reifen Frucht (plärun). Damit hat das Gesetz seinen positiven Zweck erreicht, und zwar das ganze Gesetz in einem Wort. Der Sinn ist also nicht der, dass wir jetzt das Gesetz aus Liebe beachten sollen anstatt aus Furcht, sondern dass das ganze Gesetz mit all seinen einzelnen Satzungen wegfällt, nachdem der Glaube, der durch Liebe energisch innewirkend ist, dasselbe entbehrlich macht, ja weit überbietet. Wo die Früchte des Geistes reifen, da hat das Gesetz keine Aufgabe und keinen Platz mehr.

Es fällt auf, dass Paulus hier nur von der Nächstenliebe und nicht von der Gottesliebe spricht. Das mag seine Erklärung darin finden, dass Paulus hier nur von der Bruderschaft spricht (5,13: „Dienet einander“). Auch Jesus spricht einmal ähnlich von der Erfüllung des ganzen Gesetzes durch Nächstenliebe (Mt. 7,12).

„Wenn ihr aber einander beißet und fresset, so seht zu, dass ihr nicht voneinander aufgezehrt werdet.“ (5,15)

Gegenseitiges Beißen und Fressen ist das Gegenteil von einander dienen und das Ergebnis von Streitigkeiten über das Gesetz. Die Folge wird sein ein Aufgezehrtwerden (analiskein), d. h. ein gänzlicher Verfall des geistlichen Lebens. Das Gegenteil von brüderlicher Liebe ist die Ichbehauptung, der Kampf um die eigene Meinung und Geltung. Dieser kann nur auf Kosten des Nächsten geführt werden. Entweder wird der Nächste verletzt, das ist Beißen, oder verdrängt, das ist Fressen. Beide Ausdrücke werden sonst nur von wilden Tieren gebraucht. Der Egoismus zieht die Menschen auf die Stufe von wilden Tieren herab. Ist der Beruf der Gemeinde die wahre Freiheit, so erweist sich dies erstens in der brüderlichen Liebe, die sich praktisch auswirkt im gegenseitigen Dienen und zweitens in dem Wandel im Geist.

„Ich sage aber: Wandelt auf Grund von Geist, und des Fleisches Begierde werdet ihr nicht vollbringen; denn das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch; denn diese widerstreben einander, auf dass ihr nicht, wenn ihr etwas wollt, dieses tut. Wenn ihr aber auf Grund von Geist geführt werdet, seid ihr nicht unter Gesetz.“ (5,16–18)

Wahre Freiheit ist ein Siegesleben, ein ständiges Überwinden des Fleisches. Der Widerstreit zwischen Geist und Fleisch ist der Zustand des unfreien Gläubigen (vgl. Röm. 7,14ff.). Die brennende Frage ist: Wie erlange ich den Sieg über die Begierde des Fleisches? Wie komme ich zu einem Siegesleben? Durch Wandel auf Grund von Geist kommt es zu einem Geführtwerden auf Grund von Geist. Die Beweisführung ist ähnlich wie in Röm. 8,2.14, doch dort bringt Paulus dasselbe Problem unter dem heilsgeschichtlichen Gesichtspunkt, während im Galaterbrief der praktische Gesichtspunkt der Bruderliebe in der Gemeinde vorherrscht. Eine Ergänzung zu diesem ist der Wandel auf Grund von Geist. In Röm. 8,4 heißt es: „Dass das Recht des Gesetzes erfüllt würde in uns, die wir nicht wandeln gemäß Fleisch, sondern gemäß Geist.“ Das geistgemäße Wandeln ist ein Wandeln in der Norm des Geistes. Dadurch wird das Recht des Gesetzes in uns erfüllt. Das Wandeln auf Grund von Geist zeigt uns die Kraftquelle. Dadurch wird der Sieg über die Begierde des Fleisches erlangt. Begierde (Einzahl) des Fleisches bezeichnet die ichhafte Sinnesrichtung an.

Das Wandeln im Geist, in dem das Gelüsten oder Begehren (epithymein, wörtlich = die Gefühlsrichtung auf etwas einstellen) durch das Wandeln praktiziert wird, ist Bedingung für die Geistesführung. Beides geht Hand in Hand miteinander und wird auf dem Weg der Praxis erfahrungsgemäß gelernt. Geistesführung ist gleichbedeutend mit Freiheit vom Gesetz. Für den geistgeführten Menschen bedarf es nicht eines Gesetzes, sondern er steht unter Geistesdisziplin (5,18), und ihm werden die Werke des Fleisches offenbar. Dieses Offenbarwerden ist der Weg zu ihrer Überwindung; „denn alles, was offenbar wird, ist Licht“ (Eph. 5,13). Werke des Fleisches sind die Dinge, die aus dem Herzen hervorkommen, wenn der Geist nicht die unbedingte Herrschaft hat. Der Begriff „Fleisch“ umspannt die ganze Ichhaftigkeit des natürlichen Menschen.

Wir haben in der folgenden Aufzählung der Werke des Fleisches nicht etwa einen vollständigen Lasterkatalog, sondern, wie aus dem Zusammenhang hervorgeht, eine Gegenüberstellung zu den Früchten des Geistes. In der Aufzählung unterscheiden wir vier Reihen: Voran stehen die geschlechtlichen Verirrungen:

„Denn offenbar sind die Werke des Fleisches, die da sind: Ehebruch, Hurerei, Unreinheit, Ausschweifung.“ (5,19)

Vergleiche hierzu Mt. 15,19; Mk. 7,21–22; Eph. 5,3; 1. Kor. 6,9; 2. Kor. 12,21; Eph. 4,19). Dann folgen in zwei Gliedern die religiösen Entartungen:

„Götzendienst, Zauberei.“ (5,19)

Vergleiche hierzu Offb. 9,21; 18,23; 21,8; 22,15). Die dritte Reihe mit neun Gliedern ist die größte:

„Feindschaft, Streit, Eifersucht, Zorn, Parteiränke, Zwistigkeiten, Sekten, Neid, Mord.“ (5,20)

Das alles sind Verletzungen der Nächstenliebe (vgl. 2. Kor. 12,20; Phil. 1,16–17; 2,3; 1. Kor. 3,3; Röm. 16,17). Die vierte Reihe stellt in zwei Gliedern die Unmäßigkeit im Genuss der Naturgaben ins Licht:

„Trinken, Schmausereien und dergleichen.“ (5,21)

Warum bringt Paulus hier diese Aufzählung von Fleischeswerken? Im engeren Zusammenhang mit Vers 18 wird die Absicht klar, den Galatern zu zeigen, dass der Geistgeführte viel besser als der unter Gesetz Stehende die Werke des Fleisches durchschaut und dazu nicht des Gesetzes mit den einzelnen Geboten bedarf. Der Geist Gottes deckt viel tiefer die verborgenen Wurzeln all dieser Fleischeswerke auf und macht sie offenbar. Im weiteren Zusammenhang ist zu beachten, dass diese ganze furchtbare Entartung letzten Endes die Folge der judaistischen Irrlehre ist. Die nachfolgende Warnung zeigt, dass es sich um lauter Möglichkeiten bei Gläubigen handelt.

„Davon sage ich euch voraus, wie ich’s voraus gesagt habe, dass die, die solches verüben, Königreich Gottes nicht ererben werden.“ (5,21)

Alle diejenigen, die solches betreiben, gehen ihres Königreichsberufes verlustig. Darauf hat Paulus wiederholt hingewiesen und es zuvorgesagt. Diese Warnung soll dazu dienen, dass keiner einer gefährlichen Selbsttäuschung sich hingibt. Es handelt sich hier nicht um die Frage des Seligwerdens, der Errettung, sondern um den Beruf der Gemeinde, der in der wahren Freiheit sein Wesen hat. Der Ausdruck „Königreich Gottes ererben“ bedeutet, das Erbe, den Beruf des Königreiches Gottes antreten (vgl. 1. Kor. 6,9–10; 15,50; Eph. 5,5). Erbe symbolisiert Besitz und Beruf (vgl. Kol. 1,2).

Den Fleischeswerken, die Paulus als unfruchtbar bezeichnet (vgl. Eph. 5,11), stellt er die Frucht des Geistes gegenüber.

„Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Güte, Gutheit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit.“ (5,22)

Von den Werken des Fleisches kann der Ausdruck „Frucht“ nicht gebraucht werden. Hier ist auch nicht von Früchten die Rede, sondern von einer alles zusammenfassenden Frucht, die sich dann in die verschiedenen Auswirkungen verzweigt (vgl. Eph. 5,9). Es ist die einheitlich zusammengeschlossene Charakterbildung der Geistgeführten, wie sie für den besonderen Dienst der Gemeinde wichtig ist. Die Zahlensymbolik drei mal drei bezeichnet die äußerste Vollkommenheit als Resultat eines Werdens.

- Voran geht Liebe, Freude, Friede. Die Liebe ist führend (vgl. Gal. 5,13–14). Nur durch sie kommt es zur heiligen Freude mit den Brüdern. Das Gegenteil davon sind Feindschaft, Streit, Eifersucht als Fleischeswerke. Heilige Freude gedeiht nur auf dem Boden selbstloser, dienender Liebe. Und als drittes kommt hinzu der Friede, die Harmonie oder Ausgeglichenheit der Seele und die Harmonie unter den Brüdern.

- Langmut (makrothymia, wörtlich »Fernfühlen«), Güte (chrästotäs), Gutheit (agathosynä) bilden die zweite Dreierreihe in den Auswirkungen der Geistesfrucht. Unter Langmut ist die Fähigkeit zu verstehen, vieles lange zu ertragen, also die Tragkraft der Liebe, die durch mitempfindendes, verstehendes Fernfühlen sich auszeichnet. Mit Gütigkeit ist nicht etwa schwächliche Gutmütigkeit gemeint, sondern die Tüchtigkeit, dem Nächsten zum Guten zu verhelfen durch persönliches Vorbild. Man könnte sie auch als freudige Dienstbereitschaft bezeichnen. Gutheit ist die sittliche Tüchtigkeit, sich stets nur von guten Motiven leiten zu lassen. So gibt uns diese zweite Dreierreihe den Charakter des aktiven Nächstendienstes zu erkennen.

- Und die dritte Dreierreihe, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit, zeigt uns die Festigkeit der Liebe, wenn diese auf Widerstand stößt. Die Treue (pistis) ist die unbedingte Zuverlässigkeit bei allen Proben und Widerwärtigkeiten. Sanftmut ist der Mut, sanft und milde zu bleiben, wenn einem alles zuwidergeht. Enthaltsamkeit (enkrateia, wörtlich = in Haltung) ist die Kraft der Selbstbeherrschung, Zurückhaltung, Disziplinbewahrung.

„Wider solche ist kein Gesetz.“ (5,23)

Das Gesetz hat hier keine Aufgabe zu erfüllen. Der tiefste Grund der Freiheit vom Gesetz ist die Kreuzesgemeinschaft mit Christus.

„Die des Christus Jesus aber kreuzigen ihr Fleisch mit den Leidenschaften und Begierden.“ (5,24)

Die des Christus Jesus sind, gehören ihm an, sind sein Eigentum. Als solche haben wir Verpflichtungen. Das „In-Christus-Sein“ zeigt uns unsere Stellung, das „Des-Christus-Jesus-Sein“ zeigt uns unsere Verantwortung und unsere Aufgabe (vgl. 3,29). Dazu gehört das Kreuzigen des Fleisches. Das ist also etwas, was der Gläubige zu tun hat. Das Mit-Christus-gekreuzigt-Sein (2,20) ist die Voraussetzung dafür, eine heilsgeschichtliche Tatsache. Der alte Mensch oder die alte Menschheit ist bereits mitgekreuzigt (Röm. 6,6), aber das Fleisch des Gläubigen (Gal. 5,16–17; Röm. 8,13; Kol. 3,5) muss noch dem Kreuzesfluch ausgeliefert werden. Das Heil, unsere Errettung durch Jesus Christus, ist bedingungslos, aber der Dienst ist an Bedingungen geknüpft, an das freiwillige Hingeben des Fleisches mit den Leidenschaften und Begierden in das Fluchgericht (vgl. 3,13). Somit ist das Gesetz nicht wider sie (vgl. 5,23). Die Leidenschaften sind Leidenszustände, Erregungen, wie sie im Dienst durch das Fleischeswesen hervorgebracht werden, und Begierden sind Strebungen, Wünsche, welche ebenfalls im Dienst auf Befriedigung der Ichhaftigkeit, des Geltungsbedürfnisses gerichtet sind. Wenn hier also vom Fleisch des Gläubigen die Rede ist, so ist damit nicht seine körperliche Stofflichkeit gemeint, sondern seine Ichhaftigkeit, wie sie besonders im gegenseitigen brüderlichen Dienst noch offenbar wird. Denn um diesen Dienst handelt es sich im Zusammenhang des ganzen Schriftabschnittes. Gerade das Fleisch, die Ichhaftigkeit, findet in der Gesetzlichkeit Schutz und Nährboden. Dagegen gibt die Zugehörigkeit zu Christus Jesus Kraft und Ansporn, all dem, was diesem Fleischeswesen entstammt, zu entsagen und es unter das Fluchgericht des Kreuzes zu stellen.