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Schriftenmission-Langenberg.de


Das Johannes-Evangelium

Ansicht Cover Band1 Das Johannes-Evangelium steht keineswegs im Widerspruch zu den synoptischen Evangelien. Es ist, wie Heinrich Langenberg betont, "die Ergänzung", durch die das Christusbild in einzigartiger prophetischer Schau abgerundet wird. Wir dürfen annehmen, dass auch Johannes ähnlich wie Lukas die drei Grundsätze einer ehrlichen und zuverlässigen Berichterstattung gewissenhaft befolgte: "Von Anfang an oder von oben her" (anothen), "mit heiliger Genauigkeit" (akribos) und in "geordneter Reihenfolge" (katexäs, vgl. Luk. 1,1-4).

Der Bericht über das Leben Jesu besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil wird uns gezeigt, dass der Herr, der in sein Eigentum (das Volk Israel) kam, nicht aufgenommen wurde. Im zweiten Teil macht Johannes deutlich, wie Gott denen, die Christus aufnehmen, Vollmacht gibt, nämlich denen, die an (hinein in) seinen Namen glauben.

Brosch., 384 Seiten, 22,50 €
ISBN-13: 978-3-00-030495-8
Bestellnummer: 1060

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Ausschnitte zum Probelesen


Inhaltsverzeichnis


1 Einleitung 9
2 Anleitung 11
3 Der Prolog: Die ewige Präexistenz Jesu Christi 13
4 Die zeitliche Vorgeschichte Jesu Christi 16
5 Das Zeugnis des Johannes 21
6 Die Johannesjünger und die Jünger Jesu 26
7 Die Hochzeit zu Kana 30
8 Die Tempelreinigung zu Jerusalem 34
9 Auseinandersetzung mit Nikodemus, dem Lehrer Israels 38
10 Der Bräutigam und der Freund des Bräutigams 46
11 Jesus und die Samariterin am Jakobsbrunnen 50
12 Jesu Rückkehr nach Galiläa; Krankenheilung 59
13 Jesus abermals in Jerusalem 63
14 Das Zeugnis Jesu und seine Wirkung durch Gericht 72
15 Das Speisungswunder und die Rettung über den See 77
16 Stellungnahme Jesu gegen falsche Erwartungen 82
17 Vorläufiges Ende des Wirkens Jesu in Galiläa 90
18 Scharfer Angriff Jesu auf die judäische Hierarchie 95
19 Die steigende Gärung im Volk 104
20 Christus als das Licht der Welt; die Ehebrecherin 108
21 Christus, der wahre Befreier 118
22 Christus als das Licht der Welt; der Blindgeborene 128
23 Christus als der gute Hirte 141
24 Fest der Tempelweihe 153
25 Auferweckung des Lazarus 161
26 Jesus nach Lazarus’ Auferweckung dem Tode geweiht 179
27 Jesus in Bethanien 184
28 Die Parabel vom Weizenkorn 192
29 Epilog über Jesu bisheriges Wirken 201
30 Die Fußwaschung und das Gebot der Liebe 210
31 Die Scheidung im Jüngerkreis selbst 221
32 Jesus beantwortet persönliche Fragen 229
33 Jesus, der wahre Weinstock 246
34 Der Heilige Geist als Kraft des Sieges über die Welt 259
35 Die Verherrlichung Christi durch den Heiligen Geist 266
36 Das hohepriesterliche Gebet Jesu 273
37 Die Gefangennahme Jesu 287
38 Die Verurteilung Jesu und des Petrus Verleugnung 295
39 Jesus vor Pilatus 298
40 Die zweite Gerichtsverhandlung vor Pilatus 305
41 Die Kreuzigung Jesu 312
42 Kreuzesabnahme und Beisetzung Jesu 319
43 Die Auferstehung Jesu und Maria Magdalena 325
44 Begegnungen des Auferstandenen mit seinen Jüngern 333
45 Jesu Erscheinung am See von Tiberias 343
46 Wiederherstellung des Petrus 351
Bibelstellenverzeichnis 361

3 Der Prolog: Die ewige Präexistenz Jesu Christi als des Logos (1,1–5)

Das Johannes-Evangelium beginnt genau so wie die Bibel überhaupt. Es heißt in 1. Mo. 1,1: „Im Anfang“ und in Joh. 1,1 ebenso: „Im Anfang“ (en archä). Während in der Genesis (erstes Buch Mose) es nun weiter heißt: „schuf Gott (die) Himmel und die Erde“, zeigt uns Johannes, was im Anfang als das wesenhaft Seiende schon da war, nämlich das Schöpferwort, der Logos.

Johannes geht also viel weiter zurück an den wahren Ursprung alles Seins als der mosaische Schöpfungsbericht. Er zeigt uns nicht nur den, der die Äonen (Weltzeiten) macht, Gott als den Schöpfer, der durch sein Sprechen, also durch den Logos (Christus) wirksam wird, sondern bei ihm zentralisiert sich und kulminiert auch alles in dem Christus, dem anschaulich gewordenen Gottessohn.

Und wie Johannes rückwärts bis zu dem wahren Ursprung geht, so zeigt er auch vorwärts das wahre Ziel, d. h. ein Ende ohne Ende, die Vollendung in dem wahren (ewigen) Leben. „Wer nun an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben“ (Kapitel 3,36; 5,24; 6,40.47).

Johannes zeigt in seinem Prolog die ewige Präexistenz (vorgeschichtliches Dasein) Jesu, des göttlichen, persönlichen Logos, wie auch schon der Prophet Micha getan hat, wenn er schreibt: „Du aber, Bethlehem Ephrata, die du klein bist unter den Gaustädten von Juda, aus dir soll mir ausgehen, der ein Herrscher sei in Israel, und dessen Ausgänge von der Vorzeit (qädäm), von Tagen der Urzeit (olam) her sind“ (Mi. 5,1).

Der Messias hat demnach mehrere Ausgänge. Nach Am. 9,11 liegt der Anfang des davidischen Hauses auch schon in den Tagen der Urzeit (olam). Der Prophet greift aber noch weiter zurück zu den älteren Verheißungen für Abraham, Jakob und Juda, die alle schon auf den kommenden Messias hinweisen. Derselbe war seit unvordenklichen Zeiten bereits im Kommen begriffen. In Jes. 48,16 heißt es: „Ich habe von Anfang an nicht im Verborgenen geredet; von der Zeit an, da es ward, bin ich da. Und nun hat der Herr, Jehova, mich gesandt und sein Geist“. Diese Linie rückwärts wird in der Schrift endlos verlängert. Es ist deshalb beachtenswert, dass Jesus seine ewige Präexistenz und Gottheit nicht von diesen Stellen ableitet, sondern einen anderen Schriftbeweis dafür erbringt. So lesen wir in Mt. 22,41–46: „Was dünkt euch von dem Christus? Wessen Sohn ist er? Sie sagen zu ihm: »Davids«. Er spricht zu ihnen: »Wie nennt David ihn denn im Geiste Herr, indem er sagt: Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege unter deine Füße? (Ps. 110,1). Wenn nun David ihn Herr nennt, wie ist er sein Sohn?« Und niemand konnte ihm ein Wort antworten, noch wagte jemand von dem Tage an, ihn ferner zu befragen“.

Der Begriff der Ewigkeit des Messias wird im Prophetismus wachstümlich gebildet. In Verbindung mit Jesaja, dem Zeitgenossen Michas, muss Mi. 5,1 als prophetisches Zeugnis für die ewige Präexistenz des Messias angesprochen werden, so dass dem zeitlichen Ausgang aus Bethlehem der Ausgang aus der Ewigkeit gegenübersteht; Jes. 9,6: „Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter, und man nennt seinen Namen: »Wunderrat, starker Gott (el), Vater der Ewigkeit (abi ad)«“.

Die Beweise für die ewige Gottheit Christi aus dem Alten Testament liegen jedoch nicht mit juristischer Genauigkeit auf der Hand, so dass man auch einen Ungläubigen zur Anerkennung bringen könnte, sondern sie werden nur demjenigen zwingend, der sich im Glauben dem Geist des prophetischen Totalbildes öffnet und seine Erkenntnis kontrollieren lässt. Durch die schriftgemäße Auslegung des Neuen Testaments finden wir die große gerade innere Linie von Mi. 5,1 bis Joh. 1,1. Das Problem des Messias ist durch Micha in den Mittelpunkt der Weissagung gestellt, herausgeboren aus der Not der Zeit. Diese besteht darin, dass das verheißene Friedensreich einen König haben muss, der größer und mächtiger wäre als alle davidischen Könige, deren Reformationsversuche restlos im Bankrott endeten. Johannes zeigt uns nun den Messias als menschgewordenen Logos, dessen Herrschaft Zeit und Ewigkeit, Himmel und Erde umfasst und Gottheit und Menschheit vereinigt. So lesen wir den Abschnitt Joh. 1,1–5 richtig:

„Im Anfang war das Wort, der Logos (das persönliche Schöpferwort) da, und das Wort war bei (pros = hin zu) Gott, und das Wort war Gott. Dasselbe war im Anfang bei (hin zu) Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe geworden, und ohne (getrennt von) dasselbe ist nicht eines geworden, das geworden ist. In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht aufgehalten (wörtlich: niedergehalten).“ (1,1–5)

Lassen wir dieses gewaltige Wort vom Anfang des Johannes­ Evangeliums vorurteilsfrei in glaubensvoller Andacht auf uns einwirken, so müssen wir überzeugt und überwältigt werden von der erstaunlichen Reife, mit der der Evangelist bis in die letzten Tiefen der Gotteserkenntnis vordringt. Über das, was im Anfang war, der doch kein Anfang im zeitlichen Sinne war, sondern Anfang ohne Grenze, fehlt der menschlichen Sprache das Mittel, das schier Unfassbare in eine fassbare Ausdrucksform zu bringen. Es bleibt dem Glauben das anbetende Staunen oder die staunende gläubige Anbetung. Der Geist allein, der tiefer eindringt als alles noch so große Wissen, kann uns die Tür öffnen zu den unerschöpflichen Urquellen der Tiefen Gottes (1. Kor. 2,10). Es ist der Geist Gottes (ruach elohim) gemeint, der über der Oberfläche der Wasser der Tiefe brütend schwebt, der Licht und Leben schafft. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Das Licht scheint mit aller auch die Finsternis durchbrechenden Gewalt. Es scheint noch und kann nicht aufgehalten werden.

Zeigt uns der Prolog (vgl. 1,1–5) die ewige Vorgeschichte Jesu Christi als den Logos, so bezeugt uns der Täufer Johannes die Ergänzung dazu.

36 Das hohepriesterliche Gebet Jesu (17,1-26)

„Dieses redete Jesus, und seine Augen aufhebend in den Himmel hinein sprach er: »Vater, gekommen ist die Stunde! Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche. Gleichwie du ihm Vollmacht gegeben hast über alles Fleisch, damit er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben gebe. Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. Ich habe dich verherrlicht auf der Erde, das Werk vollendend, welches du mir gabst, damit ich es tue. Und nun verherrliche du mich, Vater, bei dir selbst auf Grund der Herrlichkeit, die ich hatte vor dem Sein der Welt bei dir. Ich habe geoffenbart deinen Namen den Menschen, die du mir gegeben hast aus der Welt. Dir (dein) waren sie, und mir gabst du sie, und dein Wort haben sie bewahrt. Nun haben sie erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir ist; denn die Worte, die du mir gabst, habe ich ihnen gegeben, und sie empfingen sie und erkannten wahrhaftig, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie haben geglaubt, dass du mich gesandt hast. Ich bitte für sie, und nicht für die Welt bitte ich, sondern für die, welche du mir gegeben hast; denn dir (dein) sind sie, und alles, was mein ist, ist auch das Deine, wie, was dein ist, das Meine. Und ich bin verherrlicht worden in ihnen. Und ich bin nicht mehr in der Welt, und sie sind in der Welt, und ich komme zu dir. Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins seien gleich wie wir. Derweil ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast. Und ich habe (sie) bewacht und keiner aus ihnen ist verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit die Schrift erfüllt würde. Nun aber komme ich zu dir und rede dieses in der Welt, damit sie haben mögen die Freude, die mein ist, vollkommen geworden in ihnen selbst. Ich habe ihnen dein Wort gegeben, und die Welt hasst sie; denn sie sind nicht aus der Welt, gleichwie ich nicht aus der Welt (kosmos) bin. Nicht bitte ich, dass du sie aus der Welt nehmest, sondern dass du sie bewahrst aus dem Bösen. Aus der Welt sind sie nicht, gleichwie ich nicht aus der Welt bin. Heilige sie in der Wahrheit. Das Wort, das deine, ist wesenhaft Wahrheit. Gleichwie du mich gesandt hast in die Welt, sende ich sie in die Welt, und für sie heilige ich mich selbst, damit auch sie wesenhaft seien, Geheiligte in Wahrheit. Nicht aber für diese allein bitte ich, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben, damit alle wesenhaft eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir, damit auch sie wesenhaft in uns seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, welche du mir gabst, damit sie wesenhaft eins seien, gleichwie wir eins (sind), ich in ihnen und du in mir, damit sie wesenhaft seien Vollkommengemachte in eins hinein, damit die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und liebst sie, gleichwie du mich liebst. Vater, was du mir gegeben hast, das will ich, dass wo ich bin, auch jene wesenhaft seien mit mir, damit sie sehen die Herrlichkeit, die meine, die du mir gegeben hast, weil du mich geliebt hast vor Grundlegung (der) Welt. Gerechter Vater! Und die Welt hat dich nicht erkannt. Ich aber habe dich erkannt, und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen deinen Namen bekannt gemacht und werde ihn bekannt machen, damit die Liebe, womit du mich liebst, in ihnen wesenhaft sei, und ich in ihnen«.“ (17,1–26)

Wunderbar ist in dem Bericht des Johannes der Übergang vom Passahmahl zu dem Kampf Jesu in Gethsemane. Die Gespräche mit seinen Jüngern wurden jetzt zu lauter Anbetung über die Heilswege Gottes. Da spüren wir nichts von Angst oder Todesgrauen oder Kreuzesscheu, sondern nur tiefe Freude über den Heimgang zum Vater in die Herrlichkeit. Dieser Siegeston ist charakteristisch für Johannes, steht aber trotzdem nicht im Widerspruch mit der entsprechenden Darstellung der synoptischen Evangelien, die ausführlicher über Jesu Gebetsringen in Gethsemane berichten (vgl. Mt. 26,36 ff.; Mk. 14,32 ff.; Lk. 22,39 ff.). Nehmen wir beide Seiten zusammen, so werden die synoptischen anschaulichen Darstellungen noch vervollständigt in der Darstellung des Johannes-Evangeliums durch das sogenannte hohepriesterliche Gebet Jesu, welches nur Johannes bringt. Es ist eitel Siegesjubel.

„Dieses redete Jesus, und seine Augen aufhebend in den Himmel hinein sprach er: »Vater, gekommen ist die Stunde! Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche«“ (Vers 1). So begann Jesus seinen Sterbensweg zum Kreuz auf Golgatha, indem er seine Augen zum Vater im Himmel erhob und seinen Vater um Verherrlichung bat. So ging auch Stephanus in den Tod durch Steinigung, indem er unverwandt gen Himmel schaute und die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehend sah (Apg. 7,55). So dürfen auch wir betend unsere Herzensaugen erheben zu unserem Vater in den Himmeln (vgl. Mt. 6,9).

„Vater, gekommen ist die Stunde“. Der Ausdruck „die Stunde“ ist auch hier keine Zeitangabe, sondern der Kulminationspunkt einer Entscheidung. „Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche.“ Erfüllt hat sich geschichtlich die Verherrlichung des Sohnes in der Auferstehung und Himmelfahrt und die Verherrlichung des Vaters durch den freudigen Sohnesgehorsam in seinem triumphierenden Hingang zum Kreuz. Auffallend ist in dem ganzen hohenpriesterlichen Gebet Jesu die Häufung der Aoristform als zeitloser Modus in der Darstellung. Das dürfen wir nicht übersehen; denn die eigentliche Erfüllung hat wohl mit der Auferstehung und Himmelfahrt ihren geschichtlichen Anfang genommen, hat aber in Wirklichkeit eine überzeitliche Bedeutung als ein ewiges Heilsfaktum. Das heißt mit anderen Worten, die gegenseitige Verherrlichung des Vaters und des Sohnes setzt sich in die Äonen hinein fort. Wir stehen als Glieder der Gemeinde Gottes noch mitten drin in diesem wunderbaren Werdeprozess.

„Gleichwie du ihm Vollmacht gegeben hast über alles Fleisch, damit er allem, was du ihm gegeben hast, ewiges Leben gebe“ (Vers 2). Die Vollmacht, welche Christus von Gott empfangen hat über alles Fleisch in seiner Gottmenschheit, die er ausgeübt hat durch seinen Geistessieg, ist das Maß der Hoffnung auf seine künftige Verherrlichung. Der Ausdruck „alles Fleisch“, der sonst im Johannes-Evangelium nicht vorkommt, bezeichnet den Umfang seiner Hoffnung, allen das ewige Leben zu geben.

„Dieses aber ist das ewige (äonische) Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Vers 3). Durch die Verbreitung des Heils in Christo soll der Vater und der Sohn verherrlicht werden. Ewiges Leben ist die Entfaltung der Macht des Lebens, das aus Gott stammt, über die Äonen hinaus. Dieses äonische Leben besteht wesentlich in der Erkenntnis des allein wahren Gottes und der Heilssendung Jesu Christi.

„Ich habe dich verherrlicht auf der Erde (gä = Land oder Erde), das Werk vollendend, welches du mir gabst, damit ich es tue“ (Vers 4). Das Werk, vom Vater dem Sohn übertragen, bestand darin, dass dieser durch sein irdisches Christuswirken die Grundprinzipien schaffen sollte zur Welterlösung. Dieses Werk nun vollendend oder zum Ziele führend (teleiun), damit er es tue, hat der Sohn den Vater verherrlicht auf Erden, d. h. zunächst im Lande, auf dem Boden Israels, von wo aus dann die Verherrlichung Gottes, des Vaters, sich über die ganze Erde ausbreiten sollte. „Damit ich es tue (poiein)“ bezeichnet den Befehl des Vaters an den Sohn. Deshalb sagte Jesus: „Wir müssen wirken die Werke des, der mich gesandt hat, solange es Tag ist“ (Kapitel 9,4). Durch das „wir“ in diesem Zitat schließt Jesus das Wirken der von ihm erwählten Jünger als die Gemeindeapostel in seinen eigenen Sen­dungsauftrag mit ein.

„Und nun, verherrliche du mich, Vater, bei dir selbst auf Grund der Herrlichkeit, die ich hatte vor dem Sein (einai) der Welt, bei dir“ (Vers 5). Der Sohn hat den Vater verherrlicht im Diesseits, der Vater soll nun den Sohn verherrlichen im Jenseits, und zwar mit der Urherrlichkeit, die der Sohn bei dem Vater hatte vor dem wesenhaften Sein der Welt. Von dieser Präexistenz berichtet uns Johannes in seinem Evangelium, Kapitel 1,1–4.

Der gerade im Johannes-Evangelium so auffallend oft vorkommende Ausdruck Welt (kosmos) bedarf einer Erklärung. Damit ist hier nicht etwa die Menschenwelt gemeint, auch nicht das Sonnensystem mit der Urerde (vgl. 1. Mo. 1), auch nicht das unübersehbare Heer der Fixsterne mit ihren Trabanten, wie wir es in sternklaren Nächten am Himmelszelt in der sogenannten Milchstraße erstrahlen sehen, sondern die Weltordnung, in welcher alles Sichtbare jetzt sein Wesen hat. Der denkende Mensch steht vor großen Rätseln und fragt: „Gibt es denn nur diese eine Welt, oder was war denn vor Grundlegung dieses Kosmos da? Gab es denn, rückwärts gedacht, vordem überhaupt keine Welt in unendlicher Ewigkeit“?

Im Johannes-Evangelium heißt es: „Im Anfang war das Wort (logos = das persönliche Schöpferwort), und das Wort war bei (pros = hin zu) Gott, und das Wort war (wesenhaft) Gott. Dasselbe war im Anfang bei (hin zu) Gott“ (Kapitel 1,1–2). Jesus spricht von der Urherrlichkeit, die der Sohn bei dem Vater hatte vor dem wesenhaften Sein der Welt. Jesus zieht für einen Augenblick den Vorhang hinweg vor dem Urgeheimnis der Dreieinigkeit, dem wesenhaften Sein des Logos, des persönlichen Schöpfers, innerhalb der Dreieinigkeit. Und da stößt unser Denken an eine für uns undurchbrechbare Schranke. Wir beten an und staunen.

„Ich habe geoffenbart (phanerun = bekannt machen) deinen Namen den Menschen, die du mir gegeben hast aus der Welt. Dir (dein) waren sie, und mir gabst du sie, und dein Wort haben sie bewahrt“ (Vers 6). Unmittelbar anknüpfend an den vorigen Abschnitt, in dem Jesus von seiner eigenen Urherrlichkeit vor dem wesenhaften Sein der Welt sprach, redet er hier in dem neuen Abschnitt (Verse 6–19) von seinen Jüngern, die der Vater ihm gegeben habe aus der Welt als Träger seines Namens und des Werkes des Sohnes. Den Namen seines Vaters hatte Jesus seinen Jüngern bekannt gemacht (phanerun = bekannt machen) durch Anschaulichmachen, indem er selbst den Charakter und das Wesen des Vaters ihnen vorlebte (vgl. Kapitel 14,9: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen (horan = verständnisvoll sehen)“).

Diese Jünger entsprachen in ihrem Wesen und Charakter grundsätzlich den Ansprüchen, die an sie gestellt werden konnten, nämlich: „Dir (dein) waren sie“ in ganz besonders vertrauter liebender Gemeinschaft; „mir gabst du sie“ in der Berufung zur Nachfolge und zum Dienst; „dein Wort haben sie bewahrt (tärein = bewahren)“. Diese drei entscheidenden Grundcharakterzüge konnte Jesus seinem engeren Jüngerkreis als Zeugnis bestätigen. Ihnen galt seine hohepriesterliche Fürbitte.

„Nun haben sie erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir ist; denn die Worte, welche du mir gabst, habe ich ihnen gegeben, und sie empfingen sie und erkannten wahrhaftig, dass ich von (bei, para) dir ausgegangen bin, und sie haben geglaubt, dass du mich gesandt hast“ (Verse 7–8). Das war gleichsam ein Befähigungsnachweis für den hohen Beruf der Jünger als werdende Apostel. In Jesu Augen haben sie sich bereits siegreich im Glauben bewährt. „Nun haben sie erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir ist.“ Das ist das Fundament einer für ihren Beruf entscheidenden Glaubenserkenntnis, dass alles, was der Vater dem Sohn gab, besonders seine Lehre und sein Werk, göttlichen Ursprungs ist. Sie hatten Gott in Christo erkannt als das Strahlbild (apaugasma = Abglanz, Reflex) und den Abdruck (charaktär) seines Wesens (hypostasis), (Hebr. 1,3). Davon konnten sie nun Zeugnis ablegen. Sie waren die berufenen und befähigten Träger der redend gemachten Worte Jesu: „Denn die Worte (rhämata), welche du mir gabst, habe ich ihnen gegeben, und sie empfingen sie und erkannten wahrhaftig, dass ich von (bei, para) dir ausgegangen bin, und sie haben geglaubt, dass du mich gesandt hast“.

Wachstümlich sind die Jünger das geworden, was sie als Wortträger sein sollten: sie empfingen, erkannten, glaubten. Diesen drei Grundprinzipien entsprachen die Objekte ihres Glaubens: Sie empfingen die redend gemachten und aufgeschriebenen Worte Jesu; sie erkannten wahrhaftig (aläthinos = der Wahrheit entsprechend), dass Jesus vom Vater ausgegangen und vom Vater ausgesandt war. Das war das Fundament ihrer Evangeliumsverkündigung. „Ich bitte für sie, und nicht für die Welt bitte ich, sondern für die, welche du mir gegeben hast; denn dir (dein) sind sie, und alles, was meines ist, ist auch das Deine, wie, was deines ist, das Meine. Und ich bin verherrlicht worden in ihnen“ (Verse 9–10). Diesen seinen auserwählten Jüngern galt jetzt seine hohepriesterliche Fürbitte. Auf dem Ich (ego), dem großen Hohenpriester, liegt die Betonung. „Ich bitte für (peri) sie.“ Von ihm, dem Hohenpriester, ist im Hebräerbrief ausführlich die Rede. Er ist nicht eingegangen in das mit Händen gemachte Heiligtum, sondern in den Himmel selbst, um jetzt vor dem Angesicht Gottes für (hyper) uns zu erscheinen, und der jetzt einmal in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart worden ist zur Abschaffung der Sünde durch sein blutiges Schlachtopfer (thysia: Hebr. 9,24–26). Er bittet für seine auserwählten Jünger und nicht für die Welt, sondern für die, die der Vater ihm gab, um von ihnen verherrlicht zu werden.

Warum bittet er nicht für die Welt? Mit der jetzigen Weltordnung (kosmos) geht Gott einen anderen Weg, nämlich durch Feuergericht, das auch einmal enden wird in Heil hinein. Doch davon ist hier nicht weiter die Rede im Johannes-Evangelium. Wir haben es jetzt mit der hohenpriesterlichen Fürbitte für die werdende Gemeinde zu tun, damit Christus in ihr verherrlicht werde. „Auf dass wir etwas seien zu Lob seiner Herrlichkeit“ (Eph. 1,12), „zur (hinein in die) Erlösung des Vollbesitzes“ (Eph. 1,14). Dieser Vollbesitz (peripoiäsis = Vollaneignung, Vollerwerb, Vollbesitz) ist nach unserem obigen Text: „Alles, was meines ist, ist auch das Deine, wie, was deines ist, das Meine.“ Es wird vom Vater dem Sohn heilsgeschichtlich zugeeignet dadurch, dass der Vater dem Sohn alle, die dem Vater besonders zugehören („denn dir sind sie“), gab zu dem Zweck, dass der Sohn in ihm verherrlicht werde.

„Und ich bin nicht mehr in der Welt, und sie sind in der Welt, und ich (ego) komme zu dir. Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins seien (wesenhaft seien) gleich wie wir“ (Vers 11). Jetzt ist der sichtbare Abschied Jesu von den Seinen, die nun allein und sozusagen schutzlos sind, bevorstehend. Da brauchen die Jünger einen besonderen Schutz. Der Sohn übergibt sie als seinen erworbenen Besitz in den Schutz des Vaters, damit er sie bewahren möge, besonders jetzt während der Zeit der äußeren Trennung. Die Bewahrung und Erhaltung (tärein) der Jünger ist das besondere Anliegen des Hohenpriesters Jesus.

Auffallend ist der Ausdruck „in deinem Namen, den du mir gegeben hast“. Der Vater hat dem Sohn, als seinem Gesandten, seinen Namen auferlegt, gegeben, so dass der Sohn auch in diesem Namen den Vater bitten kann. Der Vater, der ihm die Gesandtschaft anvertraute, ist auch imstande, das Anvertraute in seinem heiligen Vaternamen zu bewahren. Der Ausdruck „Heiliger Vater“ ist einmalig und charakteristisch für das Johannes-Evangelium. Die Heiligkeit des Vaters besteht in der Abgesondertheit und einzigartigen Weise seines Heilswerkes durch die Gemeinde. In dem Gemeindegebet steht die Bitte um Heiligung des Namens des Vaters an erster Stelle. Der Zweck der hohenpriesterlichen Bitte war: „Damit sie seien (wesenhaft seien) eins, gleichwie wir.“ Das wesenhafte Einssein der Jünger wird als Zeugnis ihrer Berufsreife gewertet. Wesenhaft Einssein ist noch etwas anderes als Einigkeit im Dienst oder im Bekenntnis des Glaubens. Es ist ein erlebnismäßiges, zusammengewachsenes Einssein „gleichwie wir“, d.h. wie die Vater-Sohn-Einheit.

„Derweil ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast. Und ich habe sie bewacht, und keiner aus ihnen ist verloren außer dem Sohn des Verderbens, damit die Schrift erfüllt würde“ (Vers 12). Jesus legt in diesen Worten Rechenschaft ab von seinem Christuswirken unter seinen auserwählten Jüngern, während er bei ihnen war. Diese Aufgabe hatte er treu erfüllt in dem Namen des Vaters, den dieser ihm gab (vgl. Vers 11). „Die habe ich bewacht.“ Dafür braucht er den Ausdruck „bewachen“ (phylassein = behüten, bewachen, für die Sicherheit sorgen).

Dass einer aus den Zwölfen trotzdem ein Verräter wurde, hatte seinen heilsgeschichtlichen Grund, damit die Schrift erfüllt würde. Die Schrift (graphä) ist das geschriebene, durch die Schrift fixierte inspirierte Wort Gottes, wie wir es als die Heilige Schrift besitzen. Von ihr sagte Jesus, dass sie erfüllt werden müsse; denn vom Verräter hat sie deutlich gesprochen (vgl. Ps. 41,10; 55,14). Die Schrift wird erfüllt (plärun), das heißt, sie erhält ihre Vollausreifung (das pläroma), indem auch im Judasverrat das Böse seine Spitze erreicht (vgl. Kapitel 13,18). Jesus nennt hier den Verräter Judas „Sohn des Verderbens“ (hyios täs apoleias). Genau so nennt der Apostel Paulus den Antichristen (vgl. 2. Thess. 2,3) und fügt noch hinzu: „der Mensch der Gesetzlosigkeit.“ Das ist die große Abfallslinie, die in Judas ihren charakteristischen Anfang nahm und sich durch die ganze Gemeindehaushaltung hindurchzieht.

„Nun aber komme ich zu dir und rede dieses in der Welt“ (Vers 13a). Mit dem „nun aber“ leitet Jesus die Beschreibung des erstaunlichen Gegensatzes ein zu der erschütternd finsteren, satanischen Verfallslinie in der Mitte der Gemeinde, die Darstellung der reinen Gottesfreude. „Damit sie haben mögen die Freude, die meine ist, vollkommen geworden in ihnen selbst“ (Vers 13b). Die reine Gottesfreude unterscheidet sich wesentlich von der Freude der Welt (vgl. Kapitel 16,20). Paulus nennt sie die Freude in dem Herrn (Phil. 4,4). Der Ausdruck „die Freude, die meine ist“ charakterisiert noch mehr das eigentliche Wesen der reinen Gottesfreude, während „die Freude in dem Herrn“ den Wirkungskreis und die Abgrenzung bezeichnet.

Jesus fügt hinzu: „Damit sie haben (echein, haben als Besitz) mögen die Freude, die meine (ist), vollkommen geworden (zur Fülle, dem pläroma, ausgereift) in ihnen selbst.“ Solches Werden ist ein innerer Entwicklungsprozess, den die Welt nicht sehen und verstehen kann. „In ihnen selbst“ bezeichnet etwas ganz Persönliches, bei einem jeden charakterlich verschieden. Bei dem einen in tiefer, verborgener, anbetender Stille, bei dem andern in lautem, überströmenden Jubel.

„Ich habe ihnen dein Wort gegeben, und die Welt hasst sie; denn sie sind nicht (einai = wesenhaft sein) aus der Welt, gleichwie ich nicht aus der Welt bin“ (Vers 14). Mit „Welt“ (kosmos) ist hier wieder die damals herrschende Weltordnung gemeint und zwar speziell auf judäischem Boden. Dort war das Wort (logos = das Leben wirkende Schöpferwort) der Zankapfel der Parteien, wie es am Ende unseres Äons wieder der Fall sein wird. Dieses Wort scheidet die Geister. Es ist „dein Wort“, das heilige schöpferische Gotteswort, das Freude und Hass bewirkt. Letzten Endes sind es nicht materielle Interessen, sondern das Wort, das nicht nur reinste Freude erzeugt, sondern auch bittersten Hass. Dieser Hass richtet sich gegen die Liebhaber des Wortes: „Denn sie sind nicht wesenhaft aus der Welt, gleichwie ich nicht wesenhaft aus der Welt bin.“ Es kommt auf das wesenhafte Sein an; denn die verweltlichte Christenheit hat sich mit der christusfeindlichen Welt längst verbrüdert. Denn: „Wer nur irgend ein Freund der Welt sein will, stellt sich als Feind Gottes dar“ (Jak. 4,4).

„Nicht bitte ich, dass du sie aus der Welt wegnehmest, sondern dass du sie bewahrst aus dem Bösen“ (Vers 15). Wegnehmen aus der Welt, das wäre eine radikale, machtvolle Lösung des ganzen Problems, wie es vielfach versucht worden ist, aber ohne Erfolg. Davon zeugt die Geschichte der Mönchsklöster. Nicht (betont vorangestellt) bittet Jesus um eine gewaltsame Wegnahme der Seinen aus der gefahrvollen, versuchungsreichen Welt, sondern um Bewahrung und Bewährung, damit die Seinen Überwinder werden. Bewahren „aus“ dem Bösen (ponäros = der Arge) ist nicht zu verwechseln mit Bewahren „vor“ dem Bösen (vgl. in dem Gemeindegebet Mt. 6,13: „Reiß uns heraus weg von dem Bösen“ (dem Satan)). Das deckt sich mit Jesu Bitte an den Vater: „Dass du sie bewahrst aus dem Bösen“.

„Aus der Welt sind sie nicht, gleichwie ich nicht aus der Welt bin“ (Vers 16). Sie haben wie Christus und durch ihn im Vater ihr wesenhaftes Sein. Dieser ihrer göttlichen Art gemäß sollen sie vollendet werden. Darum bittet Jesus:

„Heilige (Aorist) sie in (oder: vermittels) der Wahrheit. Das Wort (logos), das deine, ist wesenhaft Wahrheit“ (Vers 17). Der Vater ist nicht nur der heilige, sondern auch der heiligende Vater. Das lebendig machende Wort ist die Wahrheitsquelle und das Heiligungsmittel. Alle sonstigen sogenannten Hilfsmittel, um ein heiliges Leben führen zu können, sind nur wertloser Ersatz. Die wesenhafte Wahrheit allein kann wesenhaft heiligen.

„Gleichwie du mich gesandt hast in die Welt, sende auch ich sie in die Welt, und für sie heilige ich mich selbst, damit auch sie wesenhaft seien Geheiligte in Wahrheit“ (Verse 18–19). Das ist die Voraussetzung für die Weltmission der herausgerufenen Gemeinde Gottes. Zur Ausübung ihres Sendungsauftrags in die Welt hinein musste Jesus sich selbst für (hyper) sie heiligen, als Schlachtopfer (thysia) aussondern. Unter diesem Aspekt müssen wir unsere Missionsaufgabe ansehen lernen in unserem Evangeliumsdienst. „Damit auch sie wesenhaft Geheiligte seien in (vermittels) Wahrheit.“ So sehen Gottes Missionare aus. Solche will der Herr sich erziehen als Erfüllung seiner eigenen Sendung vom Vater.

„Nicht aber für (peri) sie allein bitte ich, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an (hinein in) mich glauben“ (Vers 20). Der Blick erweitert sich und umfasst nicht nur den Jüngerkreis, sondern auch die durch ihren Dienst werdende Gemeinde bis ins Ziel hinein: „Damit alle wesenhaft eins seien, gleichwie du, Vater in mir und ich in dir, damit auch sie wesenhaft in uns seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast“ (Vers 21). Im Begriff, seinen Opfergang zum Kreuz anzutreten, überschaut Christus die ganze zukünftige Entwicklung seiner Sohnessendung bis ins Vollendungsziel hinein. Das Vollendungsziel ist die Königsherrschaft Christi in der Überwindung und Abschaffung aller gottfeindlichen Mächte und Übergabe seiner Königsherrschaft an den Gott-Vater. Dann wird auch der Sohn selber untergeordnet sein dem, der ihm das All untergeordnet hat, damit Gott sei alles in allem (vgl. 1. Kor. 15,26–28). Christus muss königlich herrschen, bis er alle Feinde unter seine Füße gelegt hat.

Diesen seinen Siegeszug anzutreten, ist Jesus nun im Begriff beim Abschied von seinen Jüngern. In diesem Siegestriumph soll uns das Kreuz Christi erstrahlen, wenn wir es recht im Glauben in der Gesamtschau des einheitlichen Wortes Gottes betrachten. Über dem Kreuz muss die Inschrift stehen: „Jesus der Sieger.“ Als Sieger bittet er in seinem hohenpriesterlichen Gebet darum, dass alle wesenhaft eins seien: „Gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir, damit auch sie wesenhaft in uns seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.“ Das wesenhafte Einssein der Jünger ist begründet in dem wesenhaften Sein in Gott, dem Vater und dem Sohn.

Nur so kann die Welt an die Erfüllung von Jesu Sendeauftrag glauben. Das ist das Fernziel Jesu mit seiner Gemeinde. „Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, welche du mir gabst, damit sie wesenhaft eins seien, gleichwie wir eins (sind), ich in ihnen und du in mir, damit sie wesenhaft als Vollkommengemachte in eins hinein seien, damit die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und liebst sie, gleichwie du mich liebst“ (Verse 22–23). Der Blick Jesu in das Vollendungsziel der Gemeinde erweitert sich nicht nur, wie in Vers 20 ausgeführt wird, er vertieft sich auch, wie wir in Vers 21 erfahren. Nun zeigt Jesus in den Versen 22–23, wie er die Herrlichkeit, die ihm der Vater gab, zur Erreichung dieses Zieles den Jüngern weiterreichte. Damit ist der Herrlichkeitsstand gemeint, den der Sohn hatte bei dem Vater vor dem Sein der Welt (Vers 5). Diesen hat Jesus den Seinen gegeben, d. h. bestimmt.

Dieser hohen Bestimmung gemäß erzieht der Herr die Seinen. Als Erziehungsmittel und Ziel nennt er das wesenhafte Einssein nicht nur untereinander, sondern auch das Einssein auf Grund der Lebenseinheit mit dem Vater und dem Sohn. Das Resultat wird sein: „Damit die Welt (kosmos) erkenne, dass du mich gesandt hast und liebst sie, gleichwie du mich liebst.“ Die echte Liebe kann die Welt schließlich nur erkennen aus dem Vorbild der Liebe des Vaters zur vollkommen gemachten (oder: vollendeten) Gemeinde und zur Sendung seines Sohnes in diese Welt. Die Liebe der Gläubigen untereinander, so wichtig sie auch ist für das Zeugnis der Gemeinde für die Welt, reicht nicht aus zu dieser Überführungskraft, weil sie immer noch mangelhaft in Erscheinung tritt. Deshalb appelliert Jesus an die Liebe des Vaters zum Sohn und bittet:

„Vater, was du mir gegeben hast, das will ich, dass wo ich bin, auch jene wesenhaft seien mit mir, damit sie sehen (theorein) die Herrlichkeit, die meine, die du mir gegeben hast, weil du mich geliebt hast vor Grundlegung (der) Welt“ (Vers 24). Die Liebe Gottes in den Gläubigen durch den Heiligen Geist soll immer mehr vertieft und bereichert werden: „zur Zurüstung der Heiligen zum Diakoniewerk, zur Auferbauung des Leibes des Christus, bis wir, die alle, hingelangen in die Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, in einen vollkommenen Mann, in ein Maß des Vollwuchses der Fülle des Christus“ (Eph. 4,12–13). Nehmen wir beide Bibelstellen zusammen, so bekommen wir ein vervollständigtes Bild von dem Heranreifen der Überwindergemeinde, von der Auferbauung des Leibes des Christus zur vollkräftigen Zeugnismission in der Welt.

Dazu gehört nach Joh. 17,24, dass die Gläubigen „wesenhaft mit Christus seien, wo er wesenhaft ist.“ Dieser Ausdruck ist charakteristisch für das Johannes-Evangelium und bezeichnet das wesenhafte Sein in Gott, wie es in dem Vater-Sohn-Verhältnis zur Darstellung kommt. Gewinnen wir diese tiefe Verwurzelung mit der Liebe Gottes, so werden auch wir wahrhaft Sehende: „Damit sie sehen (theorein) die Herrlichkeit, die meine, die du mir gegeben hast, weil du mich geliebt hast (Aorist) vor Grundlegung (der) Welt (kosmos).“ Das für „sehen“ gebrauchte Wort „theorein“ heißt soviel wie beobachtend betrachten. Ein solches sehendes Sichvertiefen in die dem Sohn eigene Herrlichkeit, die der Vater ihm gegeben hat vor Grundlegung der Welt, also von Uranfang an, als Ausdruck seiner Liebe, ist das Geheimnis des Wachsens hinein in ein Maß des Vollwuchses der Fülle des Christus.

„Gerechter Vater! Und die Welt hat dich nicht erkannt, ich aber habe dich erkannt, und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen deinen Namen bekannt gemacht und werde ihn bekannt machen, damit die Liebe, womit du mich liebst, in ihnen wesenhaft sei, und ich in ihnen“ (Verse 25–26). Mit dieser Feststellung kommt Jesus alles zusammenfassend zum Abschluss seines hohenpriesterlichen Gebets. Die Welt hat den Vater nicht erkannt trotz aller gnädigen Heimsuchungen und messianischen Offenbarungswunder. „Ich aber habe dich erkannt, und diese (die Jünger) haben erkannt, dass du mich gesandt hast.“ Jesus stellt betend den Erfolg seiner Sohnessendung in seinem nun zum Abschluss kommenden irdischen Christuswirken fest. Während die Welt den Vater nicht erkannt hat, hat Jesus den Vater erkannt, und die Jünger haben erkannt, dass der Vater ihn gesandt hat. Es dreht sich alles um die Erkenntnis der Sohnessendung in die Welt, damit jeder, an den Vatergott glaubend, ja nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe (vgl. Kapitel 3,16). Dass Jesus den Vater jetzt „gerechter Vater“ nennt, im Unterschied zu „heiliger Vater“, liegt daran, dass in dem triumphalen Hingang des Sohnes zum Kreuzesopfer der Sieg der Gerechtigkeit sich offenbaren sollte. Jesus beschließt sein hohepriesterliches Gebet mit den Worten: „Und ich habe ihnen deinen Namen bekannt gemacht und werde ihn bekannt machen“, also mit der Versicherung, dass dieses Heilswirken fortgesetzt werden soll bis zur vollendeten Offenbarung des Vaternamens in der Herrlichkeit, damit die Liebe, womit der Vater den Sohn liebt, in den Gläubigen wesenhaft sei und er in ihnen. Das Ziel ist also das Teilhaftigwerden der göttlichen Natur (vgl. 2. Petr. 1,4) oder das völlige Versenktwerden in die Liebe Gottes, die sich in Jesu offenbart.